Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (KJPP)

Die Abgrenzung für die Leistungspflicht stösst oft auf Schwierigkeiten. Durch den notwendigen Einbezug der Eltern und Schulinstanzen entsteht ein beträchtlicher Mehraufwand. Die im Kapitel für Erwachsene beschriebenen Definitionen und Ausführungen gelten auch für das Kindes- und Jugendalter, sofern nachfolgend nicht ausdrücklich auf abweichende und besondere Bestimmungen hingewiesen wird. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass Kinder keine „kleinen Erwachsenen" sind.

Unterschiede und Besonderheiten im Vergleich zum Versorgungssystem für Erwachsene

Durch den notwendigen Einbezug der Eltern entsteht in der Regel ein beträchtlicher Zusatzaufwand. Die Arbeit mit somatisch und psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen ist dadurch besonders zeit- und personalintensiv. Die Störungsbilder und Erkrankungen sind hinsichtlich Symptomatik, Ausprägung und Verlauf manchmal ähnlich, die Prävalenz häufig altersabhängig mit typischen Auftretenswahrscheinlichkeiten.

Die im vorliegenden Kapitel beschriebenen Methoden orientieren an den WZW-Kriterien und an evidenz- und leitlinienbasierten sowie wissenschaftlich fundierten Verfahren. Die KJPP orientiert sich überwiegend am ICD-10-basierten Klassifikationsschema der WHO.

Die Leistungen für die Behandlung werden von der OKP oder der IV und der Schule übernommen. Die Abgrenzung für die Leistungspflicht der einzelnen Kostenträger stösst oft auf Schwierigkeiten. Schulische Maßnahmen mit sonder- oder heilpädagogischen Förder- und Unterstützungsangeboten erfordern nicht selten eine fachärztliche Abklärung. Um einen optimalen Transfer der Untersuchungsergebnisse an die Eltern, andere Leistungserbringer und Kostenträger zu gewährleisten, braucht es oft Besprechungen. Die notwendigen Koordinationen durch die involvierten Fachärzte und nichtmedizinische Fachpersonen erfolgen in der Regel anlässlich von Standort- oder Helfer-Gesprächen. Bei Kindern mit komplexen Fragestellungen stellt die Trennung zwischen pädagogischen und medizinischen Kostenträgern ein relevantes Problem dar.

Erhöhter Aufwand für Abklärung, Beratung und Therapie

Grundsätzlich stellen testpsychologische Abklärungen bei Kindern und Jugendlichen einen wichtigen, unverzichtbaren Bestandteil der Diagnostik dar. Insbesondere bei komplexen Fragestellungen und belasteten Familiensystemen sind manchmal mehrere Übergabe- und Standortgespräche notwendig. Zusammen mit dem nicht selten erhöhten Abklärungsaufwand bei Familien mit Migrationshintergrund, hochbelasteten oder traumatisierten Kindern und Familien oder bei sprachlichen Barrieren sind für den gesamten Abklärungs-, Beratungs- und Behandlungsprozess häufig zusätzliche Ressourcen notwendig.

Psychotherapeutische Methoden

Die im Kapitel Psychiatrie erwähnten psychotherapeutischen Verfahren finden auch im Kindes- und Jugendalter Anwendung. Bei manchen Störungsbildern können auch verschiedene psychotherapeutische Methoden gleichzeitig oder nacheinander notwendig werden.

Beispielsweise wird es bei einem Kind mit ausgeprägtem ADHS und Lese-Rechtschreibe-Störung in aller Regel indiziert sein, die Eltern in die psychotherapeutische Behandlung einzubeziehen und zusätzlich eine spezifische Legasthenie- u/o Ergotherapie zu etablieren. Situationsabhängig kann auch eine ADHS-spezifische Gruppentherapie für die betroffenen Kinder mit Einbezug der Eltern den Behandlungsverlauf unterstützen. Damit der Familie bei Bedarf zu Hause adäquat geholfen werden kann, können begleitende sozial- oder heilpädagogische Unterstützungsmassnahmen (keine PL) notwendig werden, die von nichtmedizinischen Kostenträgern übernommen werden.

Bei Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen sind neben der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung auch eine engmaschige somatische Begleitung durch Kinder- und Hausärzte sowie der Einbezug von Ernährungsberatung unverzichtbar. Eine komplexe Anorexia nervosa erfordert oft eine längerdauernde, gelegentlich wiederholt stationäre Behandlung.

Häufig werden spieltherapeutische Verfahren angewandt. Diese Methoden sind als "echte" Psychotherapie zu verstehen, da im Gegensatz zum pädagogischen Spiel beispielsweise beim therapeutischen Sandspiel mit Figuren, Puppen, Tieren oder anderen Hilfsmitteln versucht wird, zugrundeliegende Belastungen, Denk- und Wahrnehmungsprozesse zu erfassen, zu analysieren und in einem therapeutischen, je nachdem auch spielbasierten Prozess, Lösungen zu entwickeln. Auf diese Weise gelingt es dem Kind alternative Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster zu entwickeln und auch Veränderungen im Beziehungserleben und auf der Verhaltensebene zu erreichen.

Zudem existiert eine ganze Reihe weiterer Therapieverfahren wie Biofeedback, Kunst-, Gestaltungs- und Musiktherapie, tiergestützte Therapieformen. Diese Therapiemethoden werden von der OKP nicht abgedeckt.

Einbezug der Eltern und spezifische Eltern-Kind-Therapie

Eltern sind situationsabhängig für Gespräche oder gemeinsame Sitzungen mit den Kindern, also Familientherapien, einzubeziehen. Zum einen benötigen sie im Sinne einer Psychoedukation Informationen über Hintergrund und Behandlungsverlauf einer Störung. Zum anderen ist es häufig so, dass auch sie und weitere für die Beziehung zum Kind wichtige Familienmitglieder ihre Haltung gegenüber dem Kind überprüfen, modifizieren und alternative Denk- und Handlungsstrategien entwickeln müssen.

Psychotherapeutische Verfahren werden bereits bei sehr jungen Kindern mit psychischen Belastungen angewendet. Beispielsweise werden Säuglinge mit persistierenden Schlafstörungen, exzessivem Schreien oder Fütterstörungen vorgestellt. Weitere besorgniserregende Symptome können eine erhebliche u/o andauernde irritable oder dysphorische (meist weinerliche oder apathische) Affektlage darstellen. Psychische Belastungen der Eltern können sich bereits in frühem Lebensalter erheblich auf die Beziehung zu ihrem Kind auswirken. Eltern und ihre Kinder werden dann in aller Regel nicht isoliert, sondern im Rahmen einer Eltern-Kind-Interaktionstherapie behandelt. Durch videobasierte, mikroanalytische Interaktionsbeachtung und andere diagnostische Tests können bei frühkindlichen Regulationsstörungen wertvolle diagnostische Hinweise auf eine beeinträchtigte Eltern-Kind-Beziehung gewonnen werden (Link AWMF, Link Pubmed). Durch die Kombination mit weiteren Therapieverfahren ermöglichen diese spezifischen Behandlungsoptionen sehr frühe Interventionen, insbesondere auch bei elterlichen psychischen Belastungen oder Erkrankungen. Auch die wenigen in der Schweiz verfügbaren stationären Angebote für Eltern-Kind-Behandlungen stellen kaum ersetzbare Behandlungsmöglichkeiten für frühe Störungen dar, insbesondere eben bei Vorliegen einer elterlichen psychischen Störung.

Eltern-Säuglingspsychotherapie

Eine Psychotherapie ohne Einbezug der Eltern ist beispielsweise in Form von Musiktherapie bereits bei Frühgeborenen wirksam (Link frontiers). Ab dem zweiten bis vierten Lebensjahr ist eine Kleinkind-Psychotherapie, die als Spieltherapie unterschiedlicher theoretischer Orientierung durchgeführt werden kann, möglich, die auch schon mit dem Kind alleine erfolgen kann, ohne Eltern im Therapiezimmer. In der Regel wird aus entwicklungspsychologischer Perspektive bis zum Alter von 2 Jahren immer ein Elternteil oder eine enge Bezugsperson anwesend oder einbezogen sein. Die Art und Häufigkeit des elterlichen Einbezugs in höherem Lebensalter hängt stark von der zugrundeliegenden kindlichen Störung respektive der Eltern-Kind-Interaktion ab. Der Fokus der Eltern-Säuglings-Psychotherapie liegt mit unterschiedlicher Gewichtung sowohl auf den Eltern als auch auf dem Säugling.

Chronische Erkrankungen im Kindesalter sind einerseits durch dauerhafte Funktionsstörungen und Behinderungen und andererseits oft von NW der Therapie begleitet. Sie müssen in den Alltag der Familien integriert werden. Dies führt zu schwerwiegenden psychosozialen Belastungen der betroffenen Kinder, der Eltern und insbesondere auch der Geschwister.

Sonderfälle stellen Beratungssituationen dar, in denen auch über eine längere Zeit hinweg nur oder überwiegend Eltern behandelt oder beraten werden, z.B. bei Unklarheiten zur Geschlechtsidentität ihres Kindes (Kostenträger i.d.R. die IV).

Einen weiteren Sonderfall stellt psychisch indizierte Rehabilitation für die ganze Familie bei Geburtsgebrechen dar, z.B. bei komplexen Herzfehlern, deren Finanzierung schwierig ist, weil eine vollständige Finanzierung der Behandlung im IVG nicht vorgesehen ist. In solchen Fällen kann eine IV-Stelle allenfalls prüfen, eine Pauschale an die Behandlungsmassnahmen zu zahlen. Die darüber hinausgehenden Kosten müssten mit der Krankenversicherung der Eltern und Geschwister verhandelt werden.

In all diesen Fällen und bei komplexen Themen ist es zu empfehlen, mit den involvierten Familien und Versicherern eine einvernehmliche Lösung zu suchen. Dies kommt den Bedürfnissen betroffener Kinder, Jugendlicher und Familien entgegen.

Behandlung zuhause („Hometreatment“) eignet sich bei komplexen Störungen, Kinder, Jugendliche und die Familien im familiären Kontext psychiatrisch zu unterstützen.

Setting

Die Entscheidung, ob eine ambulante, tagesklinische oder stationäre Behandlung notwendig ist, muss in erster Linie vom Schweregrad und der Komplexität einer Störung abhängig gemacht werden. Immer wieder kann auch eine Überforderung des familiären Systems dazu führen, dass eine Hospitalisierung notwendig wird. Wenn sich im Verlauf der stationären Behandlung zeigt, dass das familiäre Umfeld vorübergehend oder dauerhaft überfordert ist, erfolgt ein Beizug der Kinder- und Jugendhilfe, die alternative Betreuungsmöglichkeiten, bei Bedarf auch Fremdplatzierungen prüft. Bei schwerer Eigen- oder Fremdgefährdung kann auch bei Kindern und Jugendlichen eine geschlossene (fürsorgerische) Unterbringung in einer spezialisierten psychiatrischen Einrichtung verfügt werden.

Angeborene psychische Erkrankungen, schwere Entwicklungsrückstände und Syndrome

Siehe auch Anhang zur GgV, Kapitel XV und XVI (Liste Geburtsgebrechen beziehungsweise Art. 13 IVG.

Bei Vorliegen eines Geburtsgebrechens (Gg) übernimmt die IV die Funktion des Krankenversicherers, wenn dieses eine behandlungsbedürftige Störung zur Folge hat. Als Gg gelten folgende psychische Störungen, Entwicklungsrückstände (vollständige Liste) und Syndrome (Auswahl):

  • apathisches oder erethisches Verhalten geistig behinderter Kinder, GG 403
  • ADHS (wenn Kriterien GG 404 erfüllt)
  • Primäre kindliche Psychosen, GG 406 (in der klinischen Realität der KJPP nicht relevant, daher nicht weiter ausgeführt).
  • Trisomie 21 (Down-Syndrom), GG 489

Verhaltensstörungen bei geistiger Behinderung

Geistig behinderte Kinder zeigen manchmal stark abweichendes u/o erethisches Verhalten, das den Einsatz sedierender Psychopharmaka oder eine befristete Verhaltenstherapie erfordert. Auch die Betreuungspersonen und Geschwister werden sehr stark gefordert und brauchen eine intensive Begleitung.

ADHS

Siehe Unterkapitel zu ADHS.

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)

Diese umfassen den frühkindlichen Autismus, das Asperger-Syndrom und den atypischen Autismus. Wenn eine dieser Formen vorliegt und vor Vollendung des 5. Lebensjahres therapiebedürftige Symptome dokumentiert wurden (z.B. Sprachstörung), übernimmt die IV die medizinische Behandlung (Psycho- u. Ergotherapie, Arzneimittel).

Ein im Auftrag des BSV lanciertes mehrjähriges Pilotprojekt mit Kindern mit frühkindlichem Autismus (ICD-10 F84.0) belegte die Wirksamkeit der Kombination intensiver verhaltenstherapeutischer und entwicklungsorientierter Interventionen. In der Schweiz "soll allen Kindern mit frühkindlichem Autismus ab zwei Jahren und ihren Eltern ein Angebot zur intensiven Frühintervention zur Verfügung gestellt werden". Dieses Pilotprojekt ist eigentlich Ende 2018 abgelaufen, wurde aber um weitere 4 Jahre verlängert, um mit den Kantonen die weitere Finanzierung zu festzulegen. Solange noch nicht geklärt sei, welche Kinder von welchen spezifischen Interventionen profitieren, sei in der Schweiz eine Vielzahl von autismusspezifischen Programmen zu akzeptieren, sofern sie der dargestellten Evidenzlage entsprechen. Ferner empfiehlt die Studie, dass "Bund, Kantone und Autismuszentren ein Modell für die Wirkungsziele der intensiven Frühinterventionen, für die Kosten und für zentrale Merkmale der Interventionsprogramme" formulieren (Link). Die Fallpauschale wird von der IV unter der Voraussetzung vergütet, dass die Intensivbehandlung in einem der Zentren durchgeführt wird, welche mit dem BSV eine auf der Verordnung über den Pilotversuch basierende Vereinbarung unterzeichnet haben siehe IV-Rundschreiben 381 v. 21.12.2018).

Gemäss den Richtlinien des eidgenössischen Finanzausgleichs ist für die Bezahlung medizinischer Leistungen die IV, für pädagogische der Wohnkanton zuständig. Die IV spricht z.Z. die Kostengutsprachen für den medizinischen Teil der Behandlungen in den fünf spezialisierten Zentren (Aesch, Basel, Genf, Tessin, Zürich). Die Kantone weigern sich aber in der Regel, die pädagogischen Leistungen für ausserkantonale Behandlungen zu übernehmen. Kinder, die nicht in einem der Kantone mit einem Therapieprogramm wohnen, können deshalb oft diese Therapien nicht in Anspruch nehmen.

Psychotherapie bei Geburtsgebrechen körperlicher Natur

Die IV kann bei Vorliegen z.B. einer leichten Zerebralparese zusätzlich die Kosten für Psychotherapie übernehmen, wenn eine psychische Beeinträchtigung vorliegt, die eine Folge des körperlichen Geburtsgebrechens ist oder mit dieser in Zusammenhang steht, z.B. im Sinne einer Anpassungs- oder depressiven Störung.

Weitere Gebrechen

Siehe Anhang zur GgV, Kapitel XX, Liste Geburtsgebrechen beziehungsweise Art. 13 IVG.

Die Behandlungskosten für Folgen von Embryo- und Fetopathien (z.B. Alkoholfetopathie) sowie angeborener Infektionskrankheiten (wie Lues congenita, Toxoplasmose, Tuberkulose, Listeriose, Zytomegalie) werden von der IV übernommen (GG 493).

Medikamentöse Behandlung psychischer Störungen

Deshalb werden bei Kindern und Jugendlichen die Arzneimittel, im Speziellen Psychopharmaka, aufgrund breit abgestützter Erfahrung und späterer Studienergebnisse (swisspeddose.ch) oft im "Off-Label Use" eingesetzt.

Transition

Ein Spezifikum stellt der Übergang vom Jugendlichen ins junge Erwachsenenalter dar. Eine laufende psychiatrische Behandlung soll unbedingt in einem geeigneten Setting fortgesetzt werden.

Psychotherapie bei Schwierigkeiten in Schule und Lehre

Die IV übernimmt die Kosten für Psychotherapie nach Ablauf von 12 Monaten, wenn damit die Chancen auf berufliche Eingliederung gefördert werden (Art. 12 IVG). Bei Kindern und Jugendlichen bedeutet eine Verbesserung der Eingliederungschancen, dass ein positiver Einfluss auf den Schulbesuch oder die Lehre deutlich werden muss. Allerdings sollte es sich um eine zeitlich begrenzte Massnahme handeln. Wenn absehbar ist, dass aufgrund einer schweren Störung eine Dauertherapie ohne Aussicht auf anhaltende Verbesserung notwendig wird, bleibt die OKP zuständig (z.B. schizophrene Psychosen, manisch-depressive Störungen, schwere Anorexien). Die IV kann parallel zu einer Psychotherapie unter Art. 12 auch Psychopharmaka übernehmen. Endet aber die PT und soll nur noch das Psychopharmakon weitergegeben werden zur langfristigen Stabilisierung, wird wieder die OKP zuständig.

Hilfsmittel

Siehe auch Art. 21 IVG.

Die IV übernimmt bei Kindern und Jugendlichen eine Reihe von Hilfsmitteln, die bei der sozialen Kontaktaufnahme und Kommunikation unterstützen. So kann beispielsweise für ein autistisches Kind ein Kommunikationsgerät finanziert werden oder bei einem ADHS wird der Einsatz einer FM-Anlage im Unterricht geprüft.

Früherfassung

Siehe Kapitel IV

Dr. med. Kurt Albermann
Dr. med. Sibylle German
Juli 2019

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