Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

Stratifizierte oder personalisierte Medizin

Bedeutung für den Vertrauensarzt - Zusammenfassung

Der Vertrauensarzt wird in zunehmendem Ausmass mit Fragen zur Kostenübernahme von neuen biomedizinischen und molekulargenetischen Untersuchungen sowie von gezielten Therapien so genannt seltener Erkrankungen konfrontiert. Dieser Prozess wurde durch Gentechnologie und Molekularbiologie ausgelöst. Die Medizin wird dadurch stratifiziert auf das Individuum ausgerichtet. Es werden kleine Gruppen mit weniger als 5/10‘000 Einwohner aus bisher grösseren nosologischen Einheiten gebildet, vor allem im Bereiche der Onkologie. Die Solidargemeinschaft wird durch die steigende Anzahl neu gebildeter seltener Krankheiten gefordert.

Folgen der Gentechnologie und Molekularbiologie

Gentechnologie und Molekularbiologie fördern durch Analyse des menschlichen Erbgutes neue Erkenntnisse über die Pathomechanismen vieler Erkrankungen. Grössere Krankheitsentitäten werden in kleinere Untergruppen mit unterschiedlichen genetisch und epigenetisch bedingten Eigenschaften aufgeteilt. Bislang wurden vor allem Lymphome, Leukämien und Krankheiten infolge maligner Tumore untersucht und in Untereinheiten aufgeteilt. Die Stratifizierung weiterer epidemiologisch und volkswirtschaftlich gewichtiger Krankheiten wie Diabetes mellitus, rheumatische und psychische Erkrankungen sowie Kreislauferkrankungen steckt noch in den Anfängen. Durch die Stratifizierung können gezielt präventive und therapeutische molekulare Angriffspunkte erkannt werden. Durch gezielte molekulare Therapien können im kleinen anvisierten Krankheitskollektiv im Vergleich zur „ungezielten“ Therapie höhere Ansprechraten erreicht werden. Maximale Ansprechraten können unter anderem wegen unterschiedlichen Verhaltens von Onkogenen, Heterogenität der Tumore und Mutationen der Metastasen noch nicht erreicht werden.Die Stratifizierung der Krankheiten in immer kleinere Trägerkollektive führt hin zur so genannten personalisierten Medizin. Endziel dieses hochtechnisierten Prozesses ist die Ausrichtung diagnostischer, präventiver und therapeutischer Massnahmen auf die genetischen und epigenetischen Eigenschaften des einzelnen Individuums oder auf tumorspezifische Biomarker. Es handelt sich um die konsequente Fortführung der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts praktizierten Ausrichtung medizinischer Massnahmen auf die einzelnen Krankheiten. Die Stratifizierung der Medizin lässt einen grossen Strauss pharmakologischer, sozialer, ökonomischer, rechtlicher und ethischer Fragen entstehen.

(Vgl. Stratifizierte Medizin, in Arzneimittelrecht p.32-34, Giger M. Saxer U. Wildi A. Fritz M.B., Schulthess, Zürich 2013)

Orphanisierung der Medizin

Die Prävalenz der erkrankten Träger stratifizierter Krankheitsgruppen unterschreitet immer häufiger die Zahl 5/10'000 Einwohner. Dadurch werden viele Untergruppen herkömmlicher Krankheiten aufgrund der im „Orphan Drug Act“ der USA vom Januar 1983 stammenden Definition zur „seltenen Krankheit“ (Orphan Disease). Dies hat Auswirkungen auf die Entwicklung und Zulassung neuer diagnostischer und therapeutischer Methoden sowie auf die Übernahme der oft sehr hohen Kosten durch die OKP. Es entstehen vor allem in der Onkologie kleinste Untereinheiten häufiger Tumore. Als Beispiel sei das Nichtkleinzellige Lungenkarzinom genannt. Diese Untereinheiten erhalten den so genannten „Orphan Status“. Die Medizin wird so zu sagen orphanisiert.

Zu Recht geniessen Träger seltener Krankheiten im Rahmen der Solidargemeinschaft speziellen Schutz. Das Nationale Konzept für Seltene Krankheiten soll bis Ende 2017 umgesetzt werden (Umsetzungsplanung).

Infolge der Stratifizierung der Medizin werden immer grössere Teile der Bevölkerung als Träger einer seltenen Krankheit diesen Schutz einfordern. Im Endstadium der auf das einzelne Individuum zugeschnittenen stratifizierten Diagnostik, Prävention und Therapie könnte dies dereinst jede einzelne Person fordern. Dies hätte den Zerfall der Solidargemeinschaft zur Folge.

Neue Definition von Orphan Disease ist notwendig

Die Definition für Orphan Disease sollte aus wissenschaftlichen Überlegungen und im Interesse einer funktionierenden Solidargemeinschaft aktualisiert werden. Die Definition kann sich an diejenige der Arbeitsgruppe «Seltene Krankheiten» der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) anlehnen. Sie könnte wie folgt lauten: Eine Krankheit ist als „seltene Krankheit“ (Orphan Disease) zu bezeichnen, sofern sie im Kindesalter bzw. in seltenen Fällen als Spätform bei Erwachsenen in weniger als 5 Fällen auf 10‘ 000 Einwohner auftritt. Subtypen von insgesamt häufigen Erkrankungen, insbesondere von Tumorerkrankungen und malignen hämatologischen Erkrankungen beim Erwachsenen, sind ausgeschlossen.

Targeted Drugs, Biomarker und genetische Untersuchungen

Die stratifizierte Medizin, namentlich die korrekte Anwendung gezielt wirkender Arzneimittel („Targeted Drugs“), erfordert den Nachweis der krankheitsspezifischen Biomarker (Genmutationen, Rezeptorexpression, veränderte Proteinstrukturen). Die zum Nachweis der Biomarker erforderlichen oft sehr komplexen Labormethoden müssen standardisiert, reliabel und effizient sein (Link). Sie müssen eine möglichst hohe Spezifität und Sensitivität sowie einen möglichst hohen Prädiktiven Wert aufweisen. Beim Einsatz im Rahmen der OKP müssen die Labormethoden den WZW-Kriterien genügen, d.h. eine hohe analytische und klinische Qualität aufweisen und zusätzlich vom BAG anerkannt sein (Art 25 Abs. 1, Art 34 Abs. 1, Art 56 Abs. 1 sowie Anhang 3 KLV).

Die Durchführung genetischer Untersuchungen darf einzig von Ärzten, die zur selbständigen Berufsausübung oder zur Berufsausübung unter Aufsicht befugt sind, veranlasst werden (Art. 13 Abs. 1 GUMG). Vorgängig der Durchführung genetischer Untersuchungen ist die Einwilligung der zu untersuchenden Person einzuholen (Art. 5 und 10 GUMG).

Umgang mit genetischen Daten

Zyto- und molekulargenetische Untersuchungen dürfen einzig von dazu qualifizierten Laboratorien bzw. Personen durchgeführt werden, die vom BAG dazu ermächtigt wurden (Art. 8 GUMG, Art. 5 und 6 GUMV). Die Analysenberichte müssen während 30 Jahren aufbewahrt werden (Art. 16 Abs. 2 GUMV). Dem Persönlichkeitsschutz ist beim Umgang mit genetischen Daten besondere Beachtung zu schenken. Die Aufklärung der untersuchten Person über die genetischen Befunde muss hinreichend erfolgen, so dass sie darüber entscheiden kann, ob sie die Untersuchungsergebnisse zur Kenntnis nehmen und welche Folgerungen sie daraus ziehen will (Art. 18 Abs. b und c GUMG).

Stratifizierte Medizin und Big Data

Die stratifizierte Medizin schafft grosse Mengen von Daten im experimentell-molekularbiologischen und klinischen Bereich. Dazu gesellen sich persönliche Daten von Gesunden und Kranken, d.h. epidemiologisch-deskriptive Daten. Die Informationstechnologie erlaubt das Sammeln von Riesendatenmengen „Big Data“. Diese epidemiologisch-deskriptiven Daten und Daten aus der molekularbiologischen Forschung sollen zusammengeführt werden (Personalized Health, SAMW). So können statistische Korrelationen und Kausalitäten miteinander verknüpft werden. Forschungsresultate können rasch im Sinne von Public Health und im Interesse der Kranken in die Praxis einfliessen und die daraus resultierenden Ergebnisse ausgewertet werden. Aus Korrelationen können neue Fragestellungen für die Forschung generiert werden.

November 2016
Autor: Dr. med. Max Giger

Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

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