Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

Invalidenversicherung (IV)

Die IV verfolgt drei wesentliche Zielsetzungen:

  • Invalidität mit Eingliederungsmassnahmen verhindern, vermindern und beheben
  • selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensführung ermöglichen
  • verbleibende Invaliditätsfolgen finanziell ausgleichen
Grundsatz: Eingliederung vor Rente.

Das Ziel der Selbstbestimmung und Autonomie der Versicherten kommt insbesondere in den Leistungsbereichen Hilflosenentschädigung und Assistenzbeitrag zum Ausdruck.

Das Kapitel IV soll einen kurzen Überblick aus versicherungsärztlicher Sicht ermöglichen. Der Inhalt wird vereinfacht und verkürzt dargestellt, d.h. der Text erhebt keinen Anspruch auf juristische Vollständigkeit.

Das Bundesgesetz über die IV (IVG) wurde 1960 eingeführt und seither mit sechs Revisionen überarbeitet, unter anderem:

  • Ausbau der Hilflosenentschädigung (HE) und Einführung der Regionalen Ärztlichen Dienste (RAD) durch die 4. IV-Revision (2004)
  • Früherfassung, Frühintervention und Integrationsmassnahmen, somit eine Verstärkung der beruflichen Eingliederung durch die zweite Stufe der 5. IV-Revision (2008)
  • Die 6. IV-Revision brachte 2012 zusätzliche Massnahmen der beruflichen Wiedereingliederung wie z.B. Einführung des Arbeitsversuchs, verbesserte Beratung und Begleitung von Versicherten und Arbeitgebern sowie verbesserten Einarbeitungszuschuss an die Arbeitgeber und Assistenzbeitrag für betreuungsbedürftige Versicherte. Die Hoffnungen auf eine hohe Anzahl von Widereingliederungen aus den laufenden Renten erfüllten sich nicht. Insbesondere wurden weniger Renten bei unklaren Krankheitsbildern (z.B. Schmerzsyndrome) aufgehoben, als erwartet worden war.

IVG-Versicherte Personen

Personen, die ihren Wohnsitz in der Schweiz haben oder hier arbeiten, sind automatisch bei der IV versichert. Siehe Art. 1b IVG. Detailliertere Angaben: Art. 1a und 2 AHVG.

Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Invalidität und Hilflosigkeit

Die folgenden Definitionen lehnen sich stark an den Wortlaut auf der sehr zu empfehlenden Informations-Webseite zur IV für Ärzte www.iv-pro-medico.ch an.

  • Wenn ein Versicherter aufgrund gesundheitlicher Probleme seine Arbeit im bisherigen Beruf oder – als Nichterwerbstätiger – in seinem gewohnten Aufgabenbereich nicht mehr oder nur noch teilweise erfüllen kann, so liegt eine (teilweise oder vollständige) Arbeitsunfähigkeit vor.
  • Bleibt der Versicherte aufgrund der gesundheitlichen Probleme auch nach medizinischer Behandlung und beruflichen Eingliederungsmassnahmen in seinen Erwerbsmöglichkeiten für alle Tätigkeiten eingeschränkt, so spricht man von (teilweiser oder vollständiger) Erwerbsunfähigkeit (EU).
  • Von einer Invalidität spricht man dann, wenn die EU voraussichtlich bleibend oder langandauernd ist. Minderjährige sind invalid, wenn die Beeinträchtigung ihrer Gesundheit voraussichtlich später eine eingeschränkte Erwerbsfähigkeit zur Folge haben wird. Nichtberufstätige gelten als invalid, wenn sie sich nicht mehr wie bis anhin im bisherigen Aufgabenbereich (z.B. Haushalt) betätigen können.
  • Hilflosigkeit liegt vor, wenn eine Person wegen gesundheitlichen Problemen im Alltag dauernd die Hilfe Dritter benötigt, um grundlegende Handlungen des Alltags vollbringen zu können (z.B. ADL, minimale soziale Kontakte pflegen) oder der persönlichen Überwachung bedarf. Versicherte mit einer schweren Sinnesschädigung können auch Anspruch auf Hilflosenentschädigung haben.

Die Invalidität ist eine rechtliche und keine medizinische Definition.

Damit eine Invalidität angenommen werden kann, müssen drei Elemente vorliegen:

  • ein Gesundheitsschaden, der sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt. Ursache (Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall) spielt keine Rolle
  • eine bleibende oder längerdauernde EU (wirtschaftliches Element)
  • ein kausaler Zusammenhang zwischen diesen beiden Elementen.

Nicht jede gesundheitliche Beeinträchtigung eröffnet den Anspruch auf Leistungen der IV. Obwohl es sich beim medizinischen Aspekt um ein wichtiges Kriterium handelt, sind ausschliesslich die wirtschaftlichen Folgen des Leidens zu berücksichtigen: eine Diagnose ist Voraussetzung, nicht aber Begründung einer Leistung. Beispiel: Der Verlust eines Fingergliedes bedeutet für einen Violinisten aus wirtschaftlicher Sicht etwas völlig anderes als für einen Fachmann im Finanzwesen. Eine invalide Person hat in erster Linie Anspruch auf Leistungen, welche die durch den Gesundheitsschaden verursachte Beeinträchtigung vermindern und beseitigen (medizinische Massnahmen) oder deren Auswirkungen mildern (Massnahmen beruflicher Art, Hilfsmittel). Ein Anspruch auf Rente besteht erst in zweiter Linie.

Anmeldung und Leistungen der IV (Art. 3a-3c IVG)

Meldung: Im Rahmen der Früherfassung soll die IV rasch Leistungen im Sinne der Hilfestellung bei der beruflichen Reintegration bieten. Hierfür wurde die Möglichkeit einer Meldung ins Gesetz aufgenommen.

  • Vertrauens- und Versicherungsärzte einer Sozialversicherung können via Versicherer eine Meldung an die IV veranlassen.
  • Die versicherte Person muss damit nicht einverstanden sein, muss aber von der meldenden Stelle vorgängig über die Meldung orientiert werden.

Anmeldung: zum Bezug von Leistungen der IV müssen versicherte Personen bei der IV-Stelle ihres Wohnsitzkantons eine Anmeldung einreichen. Für im Ausland wohnhafte Versicherte ist die IV-Stelle für Versicherte im Ausland in Genf zuständig. Im Gegensatz zur Meldung zur Früherfassung kann die IV-Anmeldung grundsätzlich nur durch die versicherte Person selbst (oder deren gesetzlichen Vertreter) erfolgen. Anmeldung bei der IV bewirkt Entbindung der behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht, siehe Art. 6a IVG und auch das Informationsblatt: "Der Arzt zwischen Auskunftspflicht und Schweigepflicht gegenüber der IV-Stelle im Anmeldeverfahren".

Früherfassung

Mit dem Instrument der Früherfassung sollen Personen, die erste Anzeichen einer Invalidität aufweisen, frühzeitig erfasst werden. Ist ein Mitarbeiter seit mindestens 30 Tagen arbeitsunfähig oder innerhalb eines Jahres immer wieder gesundheitsbedingt vom Arbeitsplatz abwesend, kann er bei der IV zur Früherfassung gemeldet werden. Meldeberechtigt sind die versicherte Person oder ihr gesetzlicher Vertreter, die mit der versicherten Person in gemeinsamem Haushalt lebenden Familienmitglieder, Arbeitgeber, behandelnde Ärzte, beteiligte Sozial- und Privatversicherungen sowie die Sozialhilfe. Das Meldeformular ist online erhältlich. Die IV-Stelle prüft, ob ein Invalidisierungsrisiko besteht und kann dazu die versicherte Person zu einem Früherfassungsgespräch einladen. Sie macht ihr anschliessend eine schriftliche Mitteilung, wenn eine Anmeldung bei der IV angezeigt ist.

Sachleistungen

Frühintervention (Art. 7d IVG)

Für Frühintervention ist eine IV-Anmeldung notwendig. Sie soll ermöglichen, rasch erste Massnahmen einzuleiten, damit voll- oder teilweise arbeitsunfähige Personen ihren bestehenden Arbeitsplatz behalten oder an einem neuen Arbeitsplatz eingegliedert werden können.

In Frage kommen z.B. Anpassung des Arbeitsplatzes, Ausbildungskurse, Arbeitsvermittlung, Berufsberatung, sozialberufliche Rehabilitation und Beschäftigungsmassnahmen. Die Frühintervention endet mit dem Grundsatzentscheid, ob der Eingliederungsweg eingeschlagen werden kann oder ob die Rentenfrage geprüft wird. Um diesen Grundsatzentscheid fällen zu können, werden parallel zur Frühintervention die Anspruchsvoraussetzungen auf Eingliederungsmassnahmen geprüft. Es besteht kein Rechtsanspruch auf Massnahmen der Frühintervention.

Eingliederungsmassnahmen (Art. 8-11a IVG)

Für Invalide oder von Invalidität bedrohte Versicherte kommt ein Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen in Betracht, soweit diese notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich (z.B. Haushalt) zu betätigen, wiederherzustellen, zu erhalten oder zu verbessern. Der Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen besteht unabhängig von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vor Eintritt der Invalidität. Als Leistungen der IV, die auf die Eingliederung der Behinderten ausgerichtet sind, gelten:

Medizinische Massnahmen (Art. 12-14 IVG)

Medizinische Massnahmen, insoweit dadurch die Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit zur Betätigung im Aufgabenbereich erhalten oder dauernd und wesentlich verbessert werden kann, oder bei Geburtsgebrechen (siehe GgV). Medizinische Massnahmen werden von der IV nur bis zum vollendeten 20. Altersjahr übernommen.

Hilfsmittel (Art. 21 IVG)

Anspruch auf Hilfsmittel, die im Rahmen von Erwerbsfähigkeit, Erwerbstätigkeit, Tätigkeit im Aufgabenbereich, für die Schulung, die Aus- und Weiterbildung oder funktionellen Angewöhnung notwendig sind u/o zur Fortbewegung, zur Herstellung des Kontakts mit der Umwelt oder zur Selbstsorge benötigt werden. Eine wichtige Grundlage bildet hierbei die Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die IV (HVI).

Integrationsmassnahmen (Art. 14a IVG)

Die im Rahmen der 5. IV-Revision eingeführten Integrationsmassnahmen sind im Besonderen für Versicherte bestimmt, die (meist infolge psychisch bedingter Probleme) seit mindestens sechs Monaten zu mindestens 50% arbeitsunfähig sind. Sie sollen die notwendigen Voraussetzungen für eine Massnahme beruflicher Art oder für den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt schaffen.

Integrationsmassnahmen umfassen Belastbarkeits- und Aufbautraining sowie wirtschaftsnahe Integration mit Support am Arbeitsplatz.

Berufliche Massnahmen (Art. 15-18d IVG)

Der Leitsatz der IV «Eingliederung vor Rente» ist Zielsetzung und Instrument zugleich. Bevor die IV-Stelle die Prüfung der Rente in Angriff nimmt, muss die Möglichkeit einer (Wieder-)Eingliederung abgeklärt sein. Mögliche berufliche Eingliederungsmassnahmen: Berufsberatung, erstmalige berufliche Ausbildung, berufliche Weiterausbildung, Umschulung, Arbeitsvermittlung, Arbeitsversuch, Einarbeitungszuschuss, Entschädigung für Beitragserhöhungen und Kapitalhilfe. Der arbeitsunfähige, aber eingliederungsfähige Versicherte hat Anspruch auf aktive Unterstützung bei der Suche eines geeigneten Arbeitsplatzes. Nach erfolgter Vermittlung kann dem Arbeitgeber während der Einarbeitungsphase e ein Einarbeitungszuschuss gewährt werden, wenn die Arbeitsleistung dem Lohn noch nicht entspricht.

Von besonderer Relevanz sind berufliche Massnahmen bei Jugendlichen, die das gesamte Berufsleben noch vor sich haben. Wenn Jugendliche aufgrund einer länger dauernden Erkrankung Hilfe bei der Berufsausbildung benötigen, kann ebenfalls eine Unterstützung durch die IV erfolgen, unabhängig davon, ob vorher bereits Medizinische Massnahmen angemeldet wurden.

Ein Arztbericht des Behandlers sollte die Beeinträchtigung, die Ressourcen und den Unterstützungsbedarf möglichst genau beschreiben, z.B. reduzierter zeitlicher Druck oder eine besser strukturierte Führung als für einen gesunden Lernenden. Für die Beurteilung werden auch Schulzeugnisse und Berichte von Abklärungen im Schulpsychologischen Dienst beigezogen.

Gesundheitlich beeinträchtigte Auszubildende haben Anspruch auf eine Berufsberatung. Die grösste Entlastung bieten Ausbildungen in einer geschützten Institution. Es gibt inzwischen auch andere Ausbildungsmöglichkeiten über die IV. Zunehmend erfolgen Ausbildungen nach dem Konzept von Supported Education. Hier erfolgt die praktische Ausbildung im freien Arbeitsmarkt mit Besuch der Berufsfachschulen. Job-Coaches begleiten die Ausbildungen beispielsweise bei psychischen Störungen und unterstützen, spezifische Belastungen zu vermeiden. Sie können zwischen Auszubildendem und Lehrmeister vermitteln und wesentlich dazu beitragen, dass sich Jugendliche mit psychischer Erkrankung oder Residualsymptomen trotz ihrer Einschränkung motivieren lassen, eine Berufsausbildung zu absolvieren und abzuschliessen. Zudem ermöglicht diese Form der persönlichen Unterstützung nicht selten erst die Chance, dass betroffene Jugendliche die medizinisch-psychotherapeutische oder medikamentöse Behandlung fortsetzen, was ganz entscheidend zum Erfolg dieser Massnahmen und somit auch zur Kosteneffizienz beiträgt.

Vor, während und nach der Ausbildung ist zusätzlich zur Hilfe durch die IV auch die Unterstützung der Familie und des Umfeldes wichtig. Der vereinbarte und persönlich gestaltete Übergang einer möglicherweise mehrjährigen vertrauensvollen Arzt-Psychologen-Patienten-Beziehung zu einer anderen Fachperson aus dem Versorgungssystem für Erwachsene will sorgfältig umgesetzt sein. Aufgrund der vielfältigen Veränderungen und Einflüssen, denen Jugendliche und junge Erwachsene während der Transition ausgesetzt sind, kommt einer kontinuierlichen psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung eine hohe Bedeutung zu. Diese ist nicht selten nur durch den notwendigen Einbezug von sozialer u/o sozialpädagogischer Unterstützung zu leisten. Oftmals hat für die psychologisch-psychiatrische Behandlung dieser Altersgruppe auch der Einbezug der Eltern noch eine hohe Bedeutung und ist massgeblich am Erfolg beruflicher Massnahmen beteiligt. Es ist leicht vorstellbar, wieviel Mehraufwand dies im Einzelfall bedeuten kann.

Geldleistungen

Diese werden im Wesentlichen in Form von Renten, Hilflosenentschädigung und Assistenzbeitrag ausgerichtet.

Invalidenrente (Art. 28-40 IVG)

Eine IV-Rente wird nur zugesprochen, wenn zuerst die Möglichkeit einer Eingliederung geprüft und eine Re-Integration sich als nicht oder nur teilweise möglich erwiesen hat. Der Invaliditätsgrad bestimmt die Höhe der Rente. Er vergleicht das Einkommen ohne Invalidität (Valideneinkommen) mit dem Einkommen, welches bei Invalidität hypothetisch noch erzielt werden kann (Invalideneinkommen).

  • ein Invaliditätsgrad von mindestens 40% gibt Anspruch auf eine Viertelsrente,
  • von mindestens 50% auf eine halbe Rente,
  • von mindestens 60% auf eine Dreiviertelsrente,
  • ab 70% auf eine ganze Rente.

Hilflosenentschädigung (Art. 42-42ter IVG)

Sie ist bestimmt für versicherte Personen, die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen (ADL) dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedürfen.

Hilflose Minderjährige können ebenfalls eine HE erhalten. Wenn etwa ein Kind bei den alltagspraktischen Verrichtungen deutlich mehr Hilfe braucht als gesunde Gleichaltrige oder dauernd eine persönliche Überwachung erforderlich ist, die deutlich über dem Altersdurchschnitt liegt, kann eine HE beantragt werden. Dies könnte ein Kind mit ADHS sein, das entgegen seinem Entwicklungsalter noch keine Gefahren einschätzen kann, oder Kinder mit ausgeprägter Entwicklungsverzögerung oder geistiger Behinderung, die auf Unterstützung bei den ADL angewiesen sind. Wenn Kinder und Jugendliche während mehr als vier Stunden pro Tag eine zusätzliche Betreuung brauchen, kann zusätzlich ein Intensivpflegezuschlag (IPZ) beantragt werden.

Der IPZ sowie die HE entfallen bei Minderjährigen an den Tagen, an denen sie sich in einem Heim, einer Eingliederungsinstitution oder einer Heilanstalt aufhalten.

Als hilflos gelten auch volljährige Versicherte, die zu Hause leben und dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen sind, d.h. sie sind aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigung

  • nicht in der Lage, ohne die Begleitung einer Drittperson selbständig zu wohnen oder
  • für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf Begleitung angewiesen oder
  • ernsthaft gefährdet, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren.

Die IV unterscheidet drei Stufen der Hilflosigkeit: leicht, mittel und schwer. Die HE ist unterschiedlich hoch, u.a. je nachdem, ob die Versicherten im Heim oder im eigenen Zuhause wohnen (Art. 42ter IVG).

Assistenzbeitrag (Art. 42quater -42octies IVG)

Volljährige, die eine HE beziehen und zu Hause leben, haben Anspruch auf einen Assistenzbeitrag. Dieser soll die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fördern, indem er Hilfeleistungen beim täglichen Leben durch Dritte finanziert. Der Assistenzbeitrag wird an den Versicherten gezahlt, welcher wiederum die helfenden Personen bestimmt und bezahlt.

Die betreuende Person darf nicht mit der versicherten Person verheiratet sein, mit ihr in eingetragener Partnerschaft leben oder eine Lebensgemeinschaft mit ihr führen. Auch eine Verwandtschaft in direkter Linie ist ausgeschlossen.

Anspruch haben auch Minderjährige, die eine HE beziehen, zu Hause leben und

  • regelmässig die obligatorische Schule in der Regelklasse besuchen, eine Berufsausbildung auf dem regulären Arbeitsmarkt oder eine andere Ausbildung auf Sekundarstufe II absolvieren oder
  • mindestens 10 Stunden pro Woche auf dem freien Arbeitsmarkt erwerbstätig sind oder
  • denen ein IPZ für einen Pflege- oder Überwachungsbedarf von mindestens 6 Stunden pro Tag ausgerichtet wird.

Mitwirkungs- und Schadenminderungspflicht

Die Mitwirkungspflicht bedeutet, dass die versicherte Person und der Arbeitgeber bei der Abklärung aktiv mitwirken und alle Auskünfte erteilen müssen, die zur Festlegung der Versicherungsleistungen notwendig sind. (Art. 28 Abs. 1-28 Abs. 3 ATSG und Art. 6a IVG).

Eine Schadenminderungsauflage kann durch die IV gefordert werden, wenn gemäss Abklärung davon ausgegangen werden kann, dass durch geeignete therapeutische Massnahmen die Arbeitsfähigkeit gebessert oder erhalten werden kann.

Geforderte Massnahmen können sein: Medizinische (auch psychiatrische) Therapien im Rahmen anerkannter Lehrmeinungen, Einnahme von einem Facharzt verordneter Medikamente, Operationen, Physio- und Ergotherapie.

Diese Massnahmen müssen zumutbar sein. Sie dürfen keine Gefahr für Leben und Gesundheit darstellen (Art. 21 Abs.4 ATSG). Weitere Kriterien der Zumutbarkeit sind auch soziale und finanzielle Fragen. In der Regel gelten Therapien, die in der OKP versichert sind, als finanziell zumutbar. Es kann in diesem Bereich aber zu Schnittstellendiskussionen zwischen IV/RAD und vertrauensärztlichem Dienst eines Krankenversicherers kommen.

Wird eine Schadenminderungsauflage aufgestellt, so wird i.d.R. nach einer angemessenen Zeit überprüft, ob die versicherte Person die Auflagen erfüllt hat. Entscheidend für die weitere Gewährung der Leistung ist, ob die versicherte Person sich bemüht hat, die Massnahmen zu befolgen, nicht aber der therapeutische Erfolg.

Organisation der IV

Kantonale IV-Stellen

Jeder Kanton verfügt über eine eigene von der Kantonsverwaltung unabhängige IV-Stelle. Einige IV-Stellen werden autonom geführt, andere wiederum sind den kantonalen Ausgleichskassen unterstellt oder einer kantonalen Sozialversicherungsanstalt (SVA) angeschlossen. Zusätzlich besteht die IV-Stelle für Versicherte im Ausland. Sie ist der Zentralen Ausgleichsstelle (ZAS) und somit der Bundesverwaltung angeschlossen. Somit haben wir in der Schweiz 27 IV-Stellen. Die kantonalen IV-Stellen unterstehen Aufsicht des Bundes, die vom BSV ausgeübt wird.

Regionale Ärztliche Dienste

Die Abklärung des Anspruchs auf Leistungen der IV beinhaltet auch eine medizinische Beurteilung des Gesundheitsschadens und dessen Auswirkungen auf die Tätigkeiten der versicherten Person. Die versicherungsmedizinische Würdigung der ärztlichen Berichte und Gutachten wie auch allfällig notwendige medizinische Untersuchungen werden von Regionalen Ärztlichen Diensten (RAD) vorgenommen. In der Schweiz gibt es 10 RAD, die je nach Gebiet 1 bis 6 IV-Stellen mit dem nötigen medizinischen Know-how bedienen.

Bei ungenügenden Entscheidungsgrundlagen können die RAD selbst Untersuchungen von Versicherten durchführen oder externe Gutachten via IV-Stelle in Auftrag geben.

Grundsätzlich können die RAD nur von den zuständigen IV-Stellen Aufträge entgegennehmen (siehe auch Seite Organisation und Zuständigkeiten der IV).

Externe Gutachter, SuisseMED@P und BEFAS

Bei unvollständiger medizinischer Aktenlage kann die IV, meist auf Empfehlung des RAD, Einzel-, bi oder polydisziplinäre Gutachten in Auftrag geben. Während für die ersten direkte Abmachungen zwischen IV-Stelle und Gutachter bestehen, haben die polydisziplinär tätigen Institutionen ihre Vereinbarungen betreffend IV-Gutachten mit dem BSV. Die Vergabe medizinischer Gutachtensaufträge erfolgt nach dem Zufallsprinzip auf SuisseMED@P, einer webbasierten Plattform, welche von der IV-Stellen-Konferenz betrieben wird. Einen Überblick bietet die Webseite von SuisseMED@P.

Für berufliche Abklärungen stehen der IV die Beruflichen Abklärungsstellen (BEFAS) zur Verfügung.

Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)

Das BSV sorgt für eine schweizweit einheitliche Anwendung des Gesetzes und ist Aufsichtsorgan über die 26 kantonalen IV-Stellen und die IV-Stelle für Versicherte im Ausland. Es gibt Kriterien vor, um die Wirksamkeit, Qualität und Einheitlichkeit der Erfüllung der Aufgaben zu gewährleisten und überprüft die Einhaltung dieser Kriterien. Die fachliche Aufsicht wird durch allgemeine Richtlinien und im Einzelfall durch Weisungen sowie durch jährlich durchgeführte Audits in allen IV-Stellen ausgeübt. Die RAD unterstehen ebenfalls der direkten fachlichen Aufsicht durch das BSV, sind aber in ihren medizinischen Sachentscheiden im Einzelfall unabhängig (IVG Art. 59 Abs. 2 bis).

Aus der Rechtsprechung

Wichtige Leitentscheide des Bundesgerichtes

Suchterkrankung (1973) BGE 99 V 28: In diesem Urteil wird festgehalten, dass die primäre Sucht (keine vorbestehende Sucht-auslösende Erkrankung und keine Sucht-Folgeschäden) durch die IV nicht versichert ist, bzw. nicht als medizinische Begründung für eine Leistung angeführt werden kann.

Invaliditätsfremde Faktoren (1981) BGE 107 V 17: Die Beeinträchtigung der AF durch Alter, mangelnde Schulbildung, schlechte Sprachkenntnisse oder schlechte Arbeitsmarktlage ist nicht versichert.

Soziokulturelle Umstände (2001) BGE 127 V 294: Psychosoziale Belastungen für sich allein bilden keine Begründung einer Invalidität. Es braucht in jedem Fall zur Annahme einer Invalidität ein medizinisches Substrat. Je stärker psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren im Einzelfall in den Vordergrund treten und das Beschwerdebild mitbestimmen, desto ausgeprägter muss eine fachärztlich festgestellte psychische Störung von Krankheitswert vorhanden sein. Neue Schmerzrechtsprechung (2015) BGE 141 V 281: Die Überwindbarkeitsvermutung bei somatoformer Schmerzstörung und anderen psychosomatischen Leiden wird fallengelassen. Es wird ein ergebnisoffenes strukturiertes Beweisverfahren mit "Standardindikatoren" eingeführt.

Indikatorenprüfung bei psychischen Erkrankungen (2017) BGE 143 V 409, 143 V 418: Anwendung der Standardindikatoren nach BGE 141 V 281 auf sämtliche psychischen Leiden.

Auskunfts- und Schweigepflicht

Einen Überblick zu diesem Thema vermittelt das Informationsblatt der IVSK "Der Arzt zwischen Auskunftspflicht und Schweigepflicht gegenüber der IV-Stelle im Anmeldeverfahren". Wichtig ist, dass die Entbindung von der Schweigepflicht erst im Rahmen der IV-Anmeldung entsteht.

Schnittstellen zum KVG

Artikel 12 und 13 IVG

Gemäss Artikel 12 werden bei Versicherten bis zum vollendeten 20. Lebensjahr medizinische Massnahmen übernommen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die Eingliederung ins Erwerbsleben oder in den Aufgabenbereich gerichtet und geeignet sind. Erfahrungsgemäss bietet die Unterscheidung „Behandlung des Leidens an sich“ und „unmittelbar auf die Eingliederung gerichtet“ auch auf medizinisch fachlicher Ebene Anlass zu Diskussionen.

Gemäss Artikel 13 werden bei Gg die med. Massnahmen durch die IV übernommen. Hier sind gelegentlich die Kriterien zu den Gg Gegenstand von Diskussionen.

Schadenminderungsauflage (SMA)

Diskussionen zwischen der IV und dem Krankenversicherer können entstehen, wenn letztere die Kosten nicht übernehmen kann oder will.

Wichtige Links

Fakten und Aktuelles aus dem Bundesamt für Sozialversicherungen

www.iv-pro-medico.ch, Informationen für Ärzte über die IV

SwissMED@P

Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung

Literaturquellen

Kurt Häcki: Sozialversicherungen in der Schweiz. 5. Auflage 2014, Rüegger Verlag Chur

Informationsstelle AHV/IV (Hrsg.): Alles über die IV. Stand 1. Januar 2019

Autoren

Dr. med. Ronald Walshe
Rita Diem, lic. iur.
Natalie Domig

Mitarbeit: Autoren Kinder und Jugendpsychiatrie

Juli 2019

Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte

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